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  • Philippe Vallat

Motivation und Training (Highline 3/3)

Aktualisiert: 15. Dez. 2021

Wie wird man fit, um Hochleistungen zu erbringen? Wie kann man sich motivieren, wie kann man trainieren? Letzter Teil des Interviews von Sam Volery, Weltmeister in Highline.

PV: Man unterschätzt, dass vielleicht bewusst-logisch nichts passiert, aber unbewusst-körperlich doch etwas passiert. Nicht nur auf der Slackline, aber allgemein im Leben. Es geht um das Vertrauen, dass "es" passiert.

SV: Ein Beispiel noch, mit der 540 Meter Slackline, von der ich gerade gesprochen habe. Ich habe die Slackline, das "unmögliche Projekt" aufgespannt und bin zwei Stunden mit Abstürzen gelaufen. Was ist passiert? Zuerst bin ich ein gutes Stück gelaufen, weil der Anfang einfach ist. Irgendwann ist man aber in der Mitte, und dann ist es aufstehen – stürzen – aufstehen – stürzen. Eindrücke verarbeiten, aufstehen, ein paar Schritte laufen, stürzen. Alle paar Schritte stürzt man und versucht ein Feedback aus dem herauszuziehen. Gleichzeitig schaut man nach unten und sieht, dass man nicht vorankommt. Weil bei 540 Meter, mit 3 Schritten laufen, einem Sturz, 3 Schritten laufen, einem Sturz: nach 50 Stürzen ist man vielleicht 50 Meter gelaufen, und das sieht man nicht. Es sieht immer noch gleich aus, beide Fixpunkte sind gleich weit weg. Auch wenn man anscheinend nicht vorankommt, macht man trotzdem Fortschritte. Im Highline ist es klar: es kann nicht keine Fortschritte geben, weil man eben Schritte macht, man kommt voran. So ist es auch im Leben: wenn man dranbleibt, gibt es trotzdem Fortschritte, auch wenn man nichts davon merkt.


Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich mit Rémy eine 100 Meter Highline aufgespannt. Das war für uns beide damals völlig unmöglich. Dann haben wir ein paar gute Versuche gehabt und nach einem Bierli haben wir gesagt: "Hey, wer von uns macht zuerst einen Weltrekord?" Einfach als kleiner Challenge... Dann haben wir angefangen zu trainieren. Ich habe bei mir eine Slackline fix installiert und sie nur so schwierig wie möglich gemacht. Am Anfang sind die besten Versuche vielleicht 3 Meter gewesen. Am Anfang habe ich Fortschritte gespürt: nach einer Woche waren es 10 Meter, nach 3 Wochen 20 Meter. Es ging voran. Und dann gibt es Zeiten, wo man sich körperlich nicht mehr so gut fühlt, und dann stagniert man. Normalerweise geht es bei jeder Session etwas besser, und plötzlich ein Einbruch. Da gilt das gleiche Prinzip: wenn ich dranbleibe und weiter versuche, auch wenn es im Moment ein schlechtes Feeling ist, geht es trotzdem insgesamt voran! Und tatsächlich, nach etwa 7 Monaten habe ich es geschafft, die ganze Line durchzulaufen.


PV: Was sind Ihre Motivationsfaktoren gewesen? Es gibt Menschen, die vor einer grossen Schwierigkeit schnell resignieren, schnell meinen, dass sie ihre Grenze erreicht haben. Aber offensichtlich nicht bei Ihnen!

SV: Zuerst die Wette: wer von uns schafft den Weltrekord? Dann das Wissen, dass wenn ich an einem Highline-Meeting teilnehme, es plötzlich besser funktioniert, was einem ein schönes Gefühl gibt. Es gibt mehr Selbstvertrauen und löst positive Feedbacks aus: ein gutes Feeling beim Laufen auf der Line, das Echo der Zuschauer, die es cool finden. Eigentlich habe ich vor einem Jahr die Slackline zum Trainieren eine Woche vor dem Meeting am Moléson gespannt. Mit Claude Gendre, dem Organisator des Meetings, haben wir über die Möglichkeit diskutiert, eine Line zwischen den Seilbahnen zu spannen. Das war damals schon "out of reach". Es war damals nur eine Idee. Aber dann habe ich während des ersten Trainingsmonats die Idee im Kopf gehabt und mir gesagt: "Hey, das wäre doch super". Doch drüber zu laufen, wenn die Gondeln fahren, wird sicher nicht beim ersten Versuch möglich sein, aber sicher geht das. Ich sah es als Bild vor mir, hatte eine konkrete Vorstellung, wie ich zwischen den Masten laufe, mit einer genialen Aussicht, die Sonne scheint, mit Leuten, die da sind. Alleine diese Vorstellung hat mindestens für 2–3 Trainings als Motivation genügt. Irgendwann braucht es neue Vorstellungen. Der Kopf geht immer etwas weiter, wenn ich immer an das gleiche Projekt denken würde, dann wäre es langweilig. Die Gedanken kommen aber immer zurück: "Oh yeah, ich habe das Training in den letzten Tagen etwas vernachlässigt, ich habe diese Idee im Kopf gehabt, ich bin noch nicht so weit, jetzt muss ich mich speziell anstrengen."


PV: Es ist ganz spannend, wie vielfältig Ihre Motivationsstrategie ist: es sind verschiedene Bilder und Gefühle, die sich kumulieren.

SV: Der Vorteil ist, dass man in dieser Vielfalt auf den Motivationsfaktor zurückgreifen kann, der der Situation angepasst ist. Ein zusätzlicher Motivationsfaktor ist, dass ich Rückenprobleme hatte, als ich jung war. In den letzten Jahren habe ich diese Probleme durch das Slacklinen in den Griff bekommen.


PV: Wie trainieren Sie?

SV: Der grösste Teil des Trainings ist auf der Slackline selber. Ich erledige nicht nur mein Trainingsprogramm (Kraft-, Gleichgewichtstraining etc.), ich versuche auch, mich von möglichst vielen Menschen inspirieren zu lassen. Z.B. hat Laetitia gestern Abend angefangen, Partnerakrobatik zu machen. Zuerst habe ich mir gedacht: "Das mache ich nicht, ich kann es nicht". Kurze Gedanken sind einfach so. "Ich muss morgen auf der Highline fit sein, ich mache meinen Körper kaputt". Dann gibt es eine kleine Gegenstimme, die sagt: "Es ist nicht nur die Session von morgen, die zählt. Ich kann auch für die Zukunft trainieren. Ich kann Partner-akrobatik ausprobieren, es macht mich vielseitiger". Dann habe ich die erste Stimme herausgekickt – hat schon ein paar Sekunden gebraucht – und damit die erste Stimme keine Chance hat, habe ich gesagt: "doch, ich mache mit", auch wenn ich am Anfang nicht ganz davon überzeugt war. Und nach einer halben Minute hat es angefangen Spass zu machen! Und ich habe es cool gefunden, mitzumachen.


Ein anderes Beispiel: es gibt eine Frau, die erst vor 2–3 Monaten mit Highlinen angefangen hat. Sie hat sich das Slacklinen selbst beigebracht und ist erst seit kurzem in der Szene unterwegs. Und sie läuft anders auf der Slackline, es ist viel tänzerischer. Es ist schon sehr lang nicht mehr vorgekommen, dass jemand sich getraut hat, meinen Stil auf der Slackline zu kritisieren. Und da sie keine Ahnung hatte wer ich bin, dass ich bereits Weltrekorde geschafft habe, hat sie meinen Stil aufs Äusserste kritisiert und unzählige Verbesserungsvorschläge gebracht!! Ich wollte von ihr lernen, sie hat so einen coolen Stil. Die meisten Leute trauen sich nicht, meinen Stil zu kritisieren, weil sie denken, dass ich die und die Linie und den Weltrekord geschafft habe, dass ich die Szene präge. Die Leute sehen in mir das Ziel, das sie gerne erreichen möchten, ohne zu überlegen, dass ich Fehler mache. Sie hat die Szene nicht gekannt, ist praktisch nicht auf Internet, hat keine Ahnung gehabt, wer ich bin, darum hat sie sich keine Gedanken darüber gemacht. Sie hat erst nach unserem Treffen auf Internet ein paar von meinen Videos gesehen. Es war so sympathisch, dass sie keine Ahnung gehabt hat! Und sie hat trotzdem das Level gehabt, und eine so gute Beobachtung, und mir einfach Feedback zu geben! "Hey, du machst das und das so, du kannst es auch so versuchen". Was heisst richtig und falsch? Sie hat mir einfach Inputs gegeben, die mich weitergebracht haben. Es war wirklich schön, etwas zurück zu bekommen und nicht einfach nur Leute um sich zu haben, die denken: "Er ist der Slackline-Gott" oder ich weiss nicht was.


Wir sollen auch sagen, dass wir eigentlich in unserer Disziplin noch völlig am Anfang sind. In einem Jahr werden wir auf das jetzige Meeting zurückschauen und darüber lachen. Die Entwicklung geht so schnell, dass niemand sagen kann, was nächstes Jahr kommt. In ein paar Monaten werden wir über das, was wir im Moment tun, lachen und das ist gut so!


PV: Das heisst, es ist nie erreicht oder abgeschlossen.

SV: Dadurch gibt es leider viele Leute, die nicht weiter als bis zur Limite gehen, die als "WeltrekordIimite" betrachtet wird. Die Leute, die bei diesem Moléson-Meeting, wo die Hälfte der Weltelite teilnimmt, nicht da sind, werden meinen, dass das, was hier geleistet wird, die Grenze des Möglichen ist. Anstelle sich zu sagen: "Ich probiere doch einmal". Grundsätzlich sind die Leute, die hier sind, eben die Leute, die es wagen, diesen Schritt zu tun. Darum finde ich diese Leute inspirierend. Es sind nicht Leute, von oben herab schauen, sondern die auf gleicher Augenhöhe sind.


PV: Danke sehr für den spannenden Dialog und viel Glück für den Versuch des neuen Weltrekords!


In der Zwischenzeit hat es Samuel geschafft. Mehr zu seiner Leistung ist hier zu finden.


Welches sind die Erkenntnisse für Hochleistungen, individuell und im Team?

In einer VUCA-Welt müssen ebenfalls sämtliche Ressourcen unserer Gesellschaft, unserer Organisationen und Unternehmungen beansprucht werden. Ich frage mich stets, weshalb Hochleistungen, Flow-Zustände und Exzellenz sich vor allem in Kunst und Sport ausdrücken und dort bewundert werden. Aber dafür solche Fähigkeiten weiterhin eher als verwunderliche Ausnahmen in der Berufswelt gelten. Können sich eine KMU, eine NGO, eine Verwaltung wirklich darauf verzichten, das Beste aus und dank den Mitmenschen zu realisieren?

Abgeleitet aus der Erfahrung von Samuel Volery auf der Highline können folgende Merkmale herauskristallisiert werden, um Hochleistungen zu erbringen – und gleichzeitig Spass daran zu haben:

  • Spass haben und sich Zeit nehmen;

  • Aus der Komfortzone herauskommen, um die Komfortzone zu erweitern;

  • Early Prototyping: Fail early, learn fast;

  • Sich öffentlich für das Erreichen eines Ziels verpflichten (Bsp.: die Wette);

  • Wettbewerb, aber ein Wettbewerb wo es keine Verlierer gibt;

  • Ausdauer: auch wenn es anscheinend nicht vorwärts geht, geht es trotzdem irgendwie vorwärts;

  • Konkrete, multisensorielle Vorstellung: sich selber am Ziel vorstellen, es echt mit bunten Bildern, Tönen, Emotionen fühlen und erleben. Die Vorstellungen fortlaufend aktualisieren, sich neue Vorstellungen schaffen;

  • Von den anderen lernen und sich inspirieren lassen;

  • Hinterfragen der eigenen mentalen Muster und Grenzen;

  • Langfristig denken, nicht nur gerade für die unmittelbar nächste Etappe oder Leistung;

  • Authentisches Feedback abholen;

  • Weg von "richtig und falsch", dafür Neues versuchen;

  • Grenzen stecken nur in unseren Köpfen: so lang wir sie nicht selber ausprobiert haben, kennen wir sie nicht;

  • Beziehungen auf Augenhöhe, um sich gegenseitig zu inspirieren.

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